Marianne Lilienthal trägt sorgfältig ihren Lippenstift auf. Prüfend mustert sie ihr Gesicht in dem großen Spiegel. Sie liebt ihre großzügige Garderobe, sie liebt es, sich viel Zeit zu nehmen, um ihre Kleidung auszuwählen. Heute sucht sie ein pompöses rotes Kleid mit viel Tüll aus, streift eine Strumpfhose über ihre langen Beine und schlüpft in ihre kniehohen Lederstiefel. Freunde aus dem Westen schicken ihr regelmäßig ihr Lieblingsparfum. Sparsam trägt sie den eleganten Duft auf, tupft ihn auf ihre Handgelenke und gibt einen Spritzer auf ihre langen, gelockten Haare. Zufrieden zwinkert sie ihrem Spiegelbild zu. Ganz leise schleicht sie durch das Treppenhaus zur Haustür. Die Nachbarn sollten alle schlafen, keiner bekommt etwas mit. Oder? Marianne weiß genau, welche Treppenstufe knarzt. Vorsichtig gleitet sie über die hölzernen Stufen und verlagert ihr Gewicht so, dass kein Laut zu hören ist.
Auf der Straße angekommen atmet sie auf. Sie badet ihr Gesicht in der verheißungsvollen, milden Nachtluft. Sie fühlt sich frei und lebendig. Sie beschleunigt ihre Schritte, denn sie ist spät dran. Mit der Auswahl des perfekten Kleides hat sie heute zu lange herumgetrödelt. Schon von Weitem funkeln die Lichter durch die Buntglasfenster des Friedrichstadt-Palastes. Zuhause. Marianne eilt in die Garderobe, pudert sich eilig noch einmal das ebenmäßige Gesicht und dann geht es los: Auf der größten Revuebühne Europas tanzt Marianne atemlos, ekstatisch, bis ihr schwindelig wird. Sie ist für die Bühne geboren, mit einem einzigen koketten Blick wickelt sie alle Männer im Saal um den Finger, sie weiß genau, wie sie ihre Aufmerksamkeit fesselt. Doch plötzlich entdeckt sie ein bekanntes Gesicht. Verdammt. Das ist doch der Tchulakov aus dem IMMER&TREU. Was macht er denn hier? Egal, ein Zwinkern und dann einfach weitertanzen. Tanzen, bis die Gesichter zu einer formlosen, bunten Masse werden, tanzen, bis die ganze Welt funkelt wie die Kronleuchter im Palast.
Es wird morgen in der Mulackstraße. Nach und nach erwachen alle Bewohner, gehen ihrem Tagewerk nach oder drehen sich noch einmal im Bett um. Da klopft es an der Tür der Lilienthals. Es ist Herr Tchulakov, der vorgibt, die Zeitung zu bringen. Er sei ja eh schon an den Briefkästen gewesen und die Lilienthals seien anscheinend heute noch nicht aufgestanden? Daniel Lilienthal bedankt sich verschlafen und will schnell die Tür schließen. Jeder im Haus weiß, dass der alte Tchulakov neugierig und redselig wie ein Waschweib ist. Doch Herr Tchulakov will plaudern. Natürlich. Daniel seufzt leise und hört sich schicksalsergeben den neuesten Tratsch des Alten an. Was will er bloß? Tchulakov plappert weiter, regt sich auf, dass die Hausordnung wieder nicht ordentlich erledigt wurde, über die Jugendlichen, die nachts lauthals durch die Straßen ziehen, über die Politik, über das Wetter, er kennt kein Halten. Und endlich kommt er zum Punkt: Ob Daniels Frau zu Hause sei? Er hätte sie schon länger nicht gesehen. Daniel wird misstrauisch. Was geht das den Alten an? Sie ist nicht zu Hause. „So früh schon unterwegs? Na dann, einen schönen Tag noch!“ Daniel schlurft zurück ins Bett und schläft, bis die Sonne tief am Himmel steht. Als er erholt aufsteht, denkt er wieder an den merkwürdigen Alten. Ob er das Geheimnis ahnt? Sei es drum. Daniel steht auf, geht zu seiner großzügigen Garderobe, trägt sorgfältig Lippenstift auf und nimmt seine Perücke mit den langen, gelockten Haaren aus der Schatulle. Bald braucht er wieder ein neues Fläschchen West-Parfum. Zufrieden zwinkert er sich im Spiegel zu. Und ist bereit für einen neuen Abend im Palast.