NR. 4

Die heilige Charlotte und die Mulackritze.

Charlotte ist sofort wild entschlossen, die Kneipe zu erhalten. Und zwar alles.

Charlotte liebt „alten Kram“, wie sie selbst dazu sagt, seit sie ein Kind war. Zeitlebens sammelt sie Antiquitäten, Kuriositäten, verlassene Häuser und Geschichten. Denn Charlotte hat ein Herz für alles Übriggebliebene. Da macht sie auch bei Menschen keine Ausnahme. Heimlich zieht sie in ein verlassenes Schloss, nimmt ihre ganze Sammlung mit und öffnet ihre Türen für Geflüchtete und Vertriebene – und die Öffentlichkeit. Die Menschen und das Schöne, sie haben einen besonderen Platz in ihrem Leben und müssen gehegt und gepflegt werden. Sie selbst trifft man oft in historischer Dienstmädchenkleidung, einen Staubwedel in der Hand und ein breites Schmunzeln im Gesicht. Als ihre Sammlung immer größer wird und sie sich kaum noch in ihrem Zimmer bewegen kann, beginnt sie, ihren Trödel bei Gustav aus dem IMMER&TREU unterzustellen. Dort stapeln sich nun kunstfertig gestaltete Spiegel, seltsame Lampen, alte Bügeleisen, die – hatte man tatsächlich vor zu bügeln – mit heißen Kohlen befüllt wurden, riesige mechanische Musikmaschinen und Kostbarkeiten aus der Gründerzeit.


Wieder einmal bringt Charlotte einige Stücke zu Gustav, der in seiner großzügigen Wohnung im IMMER&TREU genug Platz dafür hat und es liebt, in einem kleinen Museum zu leben. Er erzählt ihr bei dieser Gelegenheit, dass die legendäre Kneipe gegenüber, wo die beiden ihre lustigsten Abende verbracht haben, die besten Zeiten hinter sich hat. Charlotte ist bestürzt! Und doch: Dort gibt es sicher neue Schätze für ihren Fundus zu finden! Die kleine Eckkneipe gegenüber, wo einst Muskel-Adolf seine glorreichen Zeiten erlebte, ist dem Verfall anheimgegeben. Die „15 Gastwirtschaft 15“, besser bekannt als Mulackritze, soll abgerissen werden. Gustav erinnert sie lachend an wilde Tänze unter dem „Tanzen verboten“-Schild, das dort nur hing, um Vergnügungssteuer zu sparen. Kurzerhand zieht Charlotte los, um zu sehen, ob sich das Erinnerungsstück retten lässt.


Die letzte Ritzenwirtin, die Minna Mahlich, ein echtes Berliner Original, erzählt Charlotte die ganze kuriose, bewegte Geschichte ihres Lokals. Und Charlotte ist sofort wild entschlossen, die Kneipe zu erhalten. Und zwar alles. Mit Stumpf und Stiel. Und wenn Charlotte sich erst einmal zu etwas entschließt, gibt es kein Halten mehr. Mit ihrem alten, hölzernen Obstkarren beginnt sie die komplette Einrichtung aus der Mulackstraße bis ins 17 Kilometer weit entfernte Mahlsdorf zu schleppen. Charlotte schnauft und schwitzt, sie packt und läuft und zieht, bis jedes Glas, die große Schankanlage und die gesamte Hurenstube mit Wäsche, Peitschen, Paravent und selbst den abgenutzten Matratzen in ihrem Museum stehen. Jedes Stück stellt sie unter Anleitung der patenten Wirtin wieder genauso auf, wie es zuvor in der Kneipe gewesen war. Minna kommt noch oft zu Besuch, stellt sich hinter ihren Tresen und gibt ihre vielen Geschichten zum Besten. Und manchmal hört man dann das alte Grammophon spielen, das man früher, wenn die Fenster weit geöffnet waren, jeden Abend in der ganzen Mulackstraße hören konnte.

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