Heinrich kann nicht schlafen. Was für ein Lärm! Was treiben seine Nachbarn da wieder? Heinrich wälzt sich in seinem Bett herum, schichtet Kissen über seinen Kopf, als würde er sich darunter begraben wollen. Doch schlafen sollte er heute nicht mehr. Fröhliche Musik, begleitet von ständigem Lachen und dem unverkennbaren Klacken von Stöckelschuhen auf Parkettboden dringen in sein Schlafzimmer.
Heinrich ist wütend. Jede Woche der gleiche Zirkus! Er schnellt aus dem Bett und wirft sich seinen Hausmantel über den Schlafanzug. Jetzt würde er es diesen rücksichtslosen Rüpeln zeigen! Er steigt die Treppe hinauf bis in den dritten Stock und klopft aufgebracht an der Tür. Niemand öffnet. Heinrich schnaubt, die sind ja schon taub von ihrem eigenen Krach! Er wummert nun heftig gegen die Tür und klingelt gleichzeitig, ohne den Finger vom Knopf zu nehmen. Da öffnet sich die Tür und Heinrich muss nach Luft schnappen. Nicht nur weil dicke Rauchschwaden in den Hausflur wabern, sondern weil die Dame, die ihm öffnet, so schön und so extravagant aussieht, dass Heinrich sofort kleinlaut wird. „Entschuldigung, ich wollte nicht stören, es ist nur …“, doch Heinrich kann den Satz nicht zu Ende sprechen.
Die unbekannte Schöne mit langen roten Haaren und einem frivolen, goldenen Kleid zieht ihn wortlos zu sich in die Wohnung. Heinrich muss blinzeln, unzählige Lichtquellen tauchen den Flur in ein geheimnisvolles Flackern und die Gäste sehen aus wie seltsame Märchengestalten. Gekleidet mit extravaganten Federhüten, glitzernden Abendkleidern, kostbarem Schmuck und langen Zigarettenspitze, die Herren im exquisiten Frack. Heinrich kann sich kaum sattsehen. So elegante Leute hat er nie zuvor gesehen.
Die Rothaarige lächelt über Heinrichs Erstaunen und bugsiert ihn in den Speiseraum, wo eine kleine Gruppe sich um einen riesigen, hölzernen Tisch versammelt hat. Der Tisch ist mit Hunderten Kerzen bedeckt, das Essen hat er offenbar verpasst. Die Rothaarige drückt ihm, immer noch schweigend, ein schmales Glas und einen merkwürdig geformten, goldenen Löffel in die Hand. Sie schenkt allen Gästen reihum aus einer Karaffe ein giftgrünes Getränk ein. Sie drängt Heinrich, ein Stück Würfelzucker auf den Löffel zu legen und über einer Kerzenflamme zu erhitzen. Gleichzeitig tauchen alle den flüssigen Zucker in ihr Getränk und nehmen einen langen Schluck Absinth. Heinrich kann seine eigene Kühnheit kaum fassen.
Vor seinen Augen verschwimmen die Lichter, der Glitter und die lachenden Menschen. Plötzlich fühlt er sich einfach glücklich und ganz leicht. Die Rothaarige legt ihm die Hand auf die Schulter und lächelt: „Na, Herr Nachbar? Darf ich Sie den Gästen vorstellen?“ Sie begleitet den Schwebenden in den Salon. Herrliche Gemälde an den Wänden zeigen surreale Szenen – oder ist das nur in seinem Kopf? –, dunkelrote, schwere Teppiche und frisch polierte Holzmöbel lassen den Raum festlich wie einen Tanzsaal wirken. Intellektuelle, Dichter, Überlebenskünstler, die gesamte Bohème des Scheunenviertels scheint hier zusammengekommen zu sein. Eine hoch gewachsene Frau spielt Klavier, ein paar Beaus tanzen Ringelreihen, ein Hütchenspieler zeigt sein Können und nimmt die angetrunkenen Gäste schamlos aus. Was die freilich nicht merken.
Befindet sich diese herrschaftliche Wohnung, diese fremdartige Welt wirklich direkt über seiner? Heinrich ist fassungslos. Er muss wohl doch eingeschlafen sein und träumen. Die Klavierspielerin setzt für einen Augenblick aus, blättert in ihren Noten und reißt Heinrich aus seinen Gedanken. Was tut er denn hier? Er lebt einfach. Vielleicht zum ersten Mal.